Bin ich einer, viele oder noch mehr?

Persönlichkeitsanteile in der Depression

Jeder von uns ist mehrere, ist viele, ist ein Übermaß an Selbsten.
Fernando Pessoa

Es gibt keinen festen Persönlichkeitskern. Die Neurowissenschaften haben nach Jahrzehnten der Suche die Bemühungen aufgegeben, einen solchen zu finden. In vielen psychotherapeutischen Ausrichtungen gibt es Konzepte,  die davon ausgehen, dass „ich viele bin“. Das Innere Familiensystem von Schwartz sieht die menschliche Persönlichkeit als ein System abgegrenzten Teilpersönlichkeiten. Durch Lebenserfahrungen, die das innere Familiensystem erschüttern, werden die einzelnen Persönlichkeitsteile aus ihren ursprünglich wertvollen Rollen heraus in extreme und zerstörerische Rollen gezwungen.

Die Ego-State-Therapie von Watkins und Watkins geht davon aus, dass Menschen, die traumatisiert wurden, zum Schutz Abwehrmechanismen gegen die mit der Traumatisierung verbundenen Schmerz- und Angstgefühle bilden. Sie spalten ihre Persönlichkeit in verschiedene Ich-Anteile (Ego States) auf. Dies geschieht zunächst fast immer unbewusst. Diese Ich-Anteile können wie eigene Teilpersönlichkeiten ein Eigenleben führen. Sie entwickeln  einen eigenen Willen, eigene Gedanken und Gefühle. Sobald ein Persönlichkeitsanteil angeregt wird, bestimmt er die Gedanken, Empfindungen und körperlichen Reaktionen des Menschen. Unterschiedliche Therapieschulen verwenden die Konzepte des inneren Kindes, des inneren Opfers oder des inneren Kritikers.

Den im Rahmen der Depression dominanten Persönlichkeitsanteil nenne ich hier den inneren Melancholiker. Im Zuge einer Major Depression putscht sich der innere Melancholiker an die Macht und übt diese dominant und autoritär aus. Er bildet Koalitionen mit dem inneren Versager, dem inneren Grübler, dem inneren Zweifler, dem Ängstlichen, dem Abhängigen und dem Vermeider. Zerstörerische Persönlichkeitsanteile haben in der Depression die Tendenz sich auszudehnen. Sie nehmen immer größeren Raum ein. Stabilisierende Persönlichkeitsanteile wie der innere Kämpfer, der innere Weise, der innere Beobachter, der innere Heiler scheinen sich in die Emigration zurückgezogen zu haben. Die Machtverhältnisse im inneren Reich haben sich innerhalb kurzer Zeit auf unheilvolle Weise verschoben. Es scheint niemanden zu geben, der an der Diktatur aus Angst und Verzweiflung rütteln kann.

Literatur

  • IFS Das System der Inneren Familie: Ein Weg zu mehr Selbstführung von Richard C. Schwartz
  • Reisen in die Innenwelt: Systemische Arbeit mit Persönlichkeitsanteilen von Tom Holmes (Autor), Lauri Holmes (Autor), Sharon Eckstein (Illustrator), Gabriela S. Martens
  • Einführung in die Ego-State-Therapie von Kai Fritzsche und Woltemade Hartman

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