Der Weg des Lebens

Wohlwollend auf das eigene Dasein schauen

Kürzlich hat mir ein Klient eine Grußkarte geschickt. Abgebildet war eine Kopfsteinpflasterstraße mit vielen bunten Häusern, vielleicht im Stil eines südeuropäischen Landes. Darauf stand:

„Die Straße des Lebens ist meist holprig, jedoch bunt und voller prägender Momente!“

Dazu kam mir ein kleines Gedankenexperiment in den Sinn:

Stellen wir uns eine Straße vor, die sich durch wechselnde  Landschaftsformationen schlängelt, über Hügel und Täler führt, durch Dörfer und Städte, mit wechselndem Straßenbelag, bei gutem und bei schlechtem Wetter.

Zwei Menschen gehen zur gleichen Zeit diesen gleichen Weg entlang.

Der eine Wanderer nimmt aufmerksam die blühende Landschaft wahr, die bunten Blumen und Bäume. Er sieht Vögel am Himmel und Rehe am Waldesrand. Für ihn erscheint das alles wie ein Wunder der Natur. Er nimmt die Anstiege hinauf auf die Berge als wichtige Herausforderungen, an denen er wachsen kann. Er freut sich und ist zufrieden, wenn er am Gipfel ankommt. Er genießt das Gipfelerlebnis in vollen Zügen. Wenn dunkle Wolken aufziehen, erinnert er sich, dass hinter den Wolken doch immer die Sonne ist und dass diese sich früher oder später wieder zeigen wird. Selbst in der Urgewalt von Unwettern, in Blitz und Hagel erkennt er etwas Majestätisches, auch wenn die Urgewalt ihn ängstigt. Er trifft fremde Menschen und begegnet ihnen mit Offenheit und Interesse. Er kommt durch fremde Städte und erfreut sich an der Andersartigkeit der Farben und Formen. Kommt er vom Weg ab und muss Umwege gehen, so sieht er den Wert der ungeplanten Erfahrungen, die er macht. Vermutlich ist dieser Mensch weitgehend zufrieden und glücklich.

Der andere Wanderer geht zeitgleich dieselbe Route. Den Weg durch die Natur nimmt er als öde und belanglos wahr. Pflanzen und Tiere interessieren ihn nicht. Verwelkte Blumen findet er ebenso hässlich wie kahle Bäume. Missmutig und ohne Zutrauen in die eigene Kraft quält er sich die Anstiege empor, empfindet diese als beschwerlich und unnötig. Oben angekommen ist er mit seinem Ärger über die Strapazen noch so beschäftigt, dass er keinen Blick für die Schönheit des Augenblicks mit dieser besonderen Aussicht hat. Er hadert mit Wolken und Regen und fragt sich, ob das Wetter überhaupt jemals wieder besser wird. Gewitter empfindet er als bedrohlich; sie machen ihm Angst und lähmen ihn. Fremden Menschen begegnet er aufgrund ihrer Andersartigkeit mit Argwohn und Abwehr. Die unerwartete Farbigkeit und Formenvielfalt fremder Städte irritiert ihn. Kommt er vom Weg ab, hadert er damit, dass sein Leben ohne Ziel und Ausrichtung, öde und bedeutungslos ist. Wie zufrieden und glücklich dieser Mensch wohl ist?

Unsere Selbstbewertung und damit auch unsere Lebenszufriedenheit hängen stark davon ab, wie wir uns selbst, unsere Umwelt und unsere Rollen in den verschiedenen Lebensbereichen und Situationen wahrnehmen und bewerten. Richten wir unsere Wahrnehmung und unsere Aufmerksamkeit eher auf Chancen oder Risiken, auf Herausforderungen oder auf Probleme, auf Positives oder auf Negatives, auf eigene Stärken oder auf  Schwächen, auf Erfolge oder auf Niederlagen, auf das, was wir haben oder auf das, was uns fehlt? Wir sollten die Blumen, die Farben und Formen, die kleinen Wunder unseres Lebens nicht aus den Augen verlieren. Was ist mir gelungen? Was war positiv (trotz allem)? Wofür bin ich dankbar? Manchmal macht es Sinn, sich vorzustellen, wie eine wohlwollende Begleiterin oder ein wohlwollender Begleiter unsere Situation beurteilt. Was würde sie oder er unsere Situation sehen? Was würde ihnen ihre Ratgeberin oder ihr Ratgeber sagen? Vielleicht würden sie oder er uns auf die Lichter und Leuchten am Wegesrand aufmerksam machen, die unseren Weg erhellen können. Oder auf Wegweiser, die wir fast übersehen hätten… Es ist wichtig, immer wieder den Fokus der Aufmerksamkeit auf das Schöne zu richten, das, was gut ist, selbst oder gerade in schwierigen Momenten.

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